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„Was heute selbstverständlich ist, musste hart erkämpft werden“

Andrea Eibs-Lüpcke, Vorsitzende der AsF Pattensen, hatte den Vortrag organisiert und Lesemann (rechts) dazu eingeladen. Außerdem auf dem Bild: Annette Köppel, Leiterin des Mehrgenerationenhauses Mobile.

Pattensen / Laatzen.

„100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschlands liegt der Frauenanteil im Niedersächsischen Landtag bei 26,3 Prozent. Das ist der drittniedrigste Wert vor Schlusslicht Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern“, sagte die SPD-Landtagsabgeördnete Silke Lesemann vor Zuhörerinnen im Mehrgenerationenhaus Mobile in Pattensen. Lesemann, promovierte Historikerin, referierte zum Thema „Frauen haben das Recht zu wählen, 100 Jahre Frauenwahlrecht“ - eingeladen hatte die Arbeitsgruppe sozialdemokratischer Frauen (AsF) Pattensen.

Lesemann erinnerte in ihrem Vortrag daran, dass die Einführung des Frauenwahlrechts am 9. November 1918 „ein Meilenstein für mehr Demokratie“ war. Die erste Wahl mit Frauen fand am 19. Januar 1919 statt: mehr als 17 Millionen Frauen konnten erstmals ihr neues Recht nutzen und mehr als 80 Prozent von ihnen gaben ihre Stimme ab. 300 Frauen kandidierten und 37 weibliche Abgeordnete zogen ins Parlament ein. „Die ersten allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen in Deutschland brachten damit knapp neun Prozent Parlamentarierinnen hervor“, sagte Lesemann. Unter ihnen war die Sozialdemokratin und Gründerin der Arbeiterwohlfahrt, Marie Juchacz. Weimarer Nationalversammlung gewählt. Am 19. Februar 1919 sprach sie in der Weimarer Nationalversammlung als erste Parlamentarierin und begrüßte ihre neuen Kollegin mit den Worten „Meine Herren und Damen!“, was sofort Heiterkeit auslöste. „Was heute selbstverständlich ist, musste hart erkämpft werden“, betonte Lesemann. Sie erinnert auch an die Abschaffung des Frauenrechts während der der NS-Herrschaft: „Frauen wurden systematisch von politischen Funktionen und Ämtern ausgeschlossen und auf die Rollen zurückverwiesen, die sie auf die ,Reproduktion des deutschen Volkes’" reduzierten.“ Erst das Grundgesetz vom Mai 1949 gestand den Frauen wieder vollwertige politische Rechte in Deutschland zu.

Lesemann schlug anschließend den Bogen zur heutigen Situation. „100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts sind Frauen im aktuellen 18. Deutschen Bundestag immer noch unterrepräsentiert. Mit der letzten Bundestagswahl ist der Frauenanteil unter den Abgeordneten auf 31 Prozent geschrumpft und ist damit so gering wie zuletzt in der Wahlperiode 1998-2012.“ Der Landesfrauenrat hatte nach der vergangenen Landtagswahl kritisiert, dass der Anteil der weiblichen Abgeordneten im aktuellen Landtag auf unter 30 Prozent gesunken und damit so niedrig wie zuletzt vor 20 Jahren ist. „Der Frauenanteil lag vor der Wahl bei rund 31 Prozent, sackte dann aber auf nun rund 27 Prozent ab“, kritisierte Lesemann. 36 weibliche Abgeordnete stehen derzeit 101 Männer gegenüber. Den geringsten Frauenanteil habe die AfD: Unter den neun Abgeordneten ist nur eine Frau. Noch schlechter ist es laut Lesemann auf der ehrenamtlichen Ebene der Kommunalpolitik um die Beteiligung von Frauen bestellt. „Ob es darum geht, wo eine neue Kreisstraße gebaut wird, wie die kommunale Bibliothek ausgestattet wird oder ob und in welcher Qualität die Straßenbeleuchtung umgerüstet wird, ob und wo ein Familienzentrum gebaut wird – das entscheiden mehrheitlich Männer“, sagte Lesemann. In den Kreistagen und Räten kreisfreier Städte in Niedersachsen seien im Schnitt nur 27,1 Prozent Frauen vertreten, auf der kommunalen Ebene durchschnittlich 25 Prozent. Besonders gravierend sei die Unterrepräsentanz von Frauen in kommunalen Führungspositionen; nur neun Prozent bekleiden das Amt der Bürgermeisterin. „Pattensen ist hier eine rühmliche Ausnahme“, sagte Lesemann. Ansonsten halte sich die Begeisterung der meisten Frauen, in der Politik der Männer „mitspielen“ zu dürfen, in Grenzen. „Zu viele, die es mit der Parteipolitik versucht haben, zogen sich frustriert wieder zurück“, so Lesemann. Die Abneigung vieler Frauen gegenüber einem Politikbetrieb, der sich in erster Linie als Machtpolitik versteht, werde immer offensichtlicher. In Deutschland gebe es verschiedene Initiativen, unter anderem der Landesfrauenräte sowie des Deutschen Juristinnenbundes, des Deutschen Frauenrats und der BAG kommunaler Gleichstellungsbeauftragter bundesweit, dem Trend entgegen zu wirken. In Niedersachsen habe Gabriele Andretta (SPD), die erste Parlamentspräsidentin in der mehr als 70.jährigen Geschichte Niedersachsens, hierzu einen Vorstoß gewagt. 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts macht sich die niedersächsische SPD für ein Parité-Gesetz stark, um die Anzahl von Frauen in den Parlamenten zu erhöhen. „Es ist notwendig, darüber zu diskutieren, da andere, freiwillige Regelungen nicht zum gewünschten Erfolg führen“, so Lesemann. Die SPD-Landtagsabgeordnete beendete ihren Vortrag mit einem Zitat von Elisabeth Selbert, „Mutter des Grundgesetzes“ und sozialdemokratische Juristin, aus dem Jahr 1981: „Der geringe Frauenanteil in Parlamenten sei ,Verfassungsbruch in Permanenz’. Es ist höchste Zeit, diesen Missstand zu verändern.“