Der Wille der Patienten zählt

Es geht um den mutmaßlichen Willen des Patienten: Christiane Hagenah (Dritte von links) und Andrea Strube-Kirsch (Vierter von links) vom Klinischen Ethikkomitee in einer Fallbesprechung mit einem Angehörigen und dem Behandlungsteam. Quelle: KRH

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Harald Clausen* ist nicht mehr bei Bewusstsein. Vor drei Tagen wurde er nach einem Schwächeanfall ins Krankenhaus gebracht, dort hat man eine Hirnblutung festgestellt. Seitdem liegt er regungslos im Krankenbett und ist nicht ansprechbar. Seine Atmung muss durch ein Gerät unterstützt werden. Niemand weiß, ob und was er noch von seiner Umgebung und seinem Leben wahrnimmt. Das sich sein Zustand verbessern wird ist so gut wie ausgeschlossen. Aber er lebt noch. Die Frage ist jetzt: Wie umfangreich soll die Medizin ihn jetzt noch unterstützen? Was sollen die Ärztinnen, Ärzte und Pflegefachkräfte noch unternehmen? Entscheidend in so einem Moment ist einzig und allein der Wille von Harald Clausen selbst. Doch er kann ihn nicht mehr äußern.

Für einen Fall wie diesen ist die Patientenverfügung vorgesehen. In ihr kann jeder Mensch detailliert festlegen, welche Unterstützung er unter welchen Rahmenbedingungen noch erhalten möchte und welche nicht. Doch Harald Clausen hat keine Patientenverfügung ausgestellt. Sein einziger Sohn ist unsicher, was sein Vater sich gewünscht hätte. Auf ihm lastet ein hoher Druck, denn er nimmt an, dass er nun über das Leben seines Vaters zu entscheiden hätte. Doch dem ist nicht so.

Im Klinikum Region Hannover findet zu diesem Zeitpunkt auf der Station eine ethische Fallbesprechung statt. Die behandelnden Ärzte, die verantwortlichen Pflegefachkräfte und der Sohn kommen zusammen. Moderiert und dokumentiert wird diese Besprechung von zwei Mitgliedern des klinischen Ethikkomitees (KEK). In einem strukturierten Gespräch wird zusammengetragen, was man über die Lebenseinstellung und die momentane Behandlungssituation des Patienten weiß. Das Ziel ist es, hieraus am Ende das ableiten zu können, was maßgeblich für die weitere Behandlung ist: Den mutmaßlichen Willen von Harald Clausen selbst. Das klinische Ethikkomitee ist spezialisiert auf solche und andere ethische Fragestellungen. Die 14 Mitglieder sind hierfür geschult und bringen darüber hinaus die Sichtweise ihrer Profession und ihrer Erfahrung ein – sei es als Seelsorgerin, Amtsrichterin, Arzt, Pflegefachkraft oder engagierte Bürgerin. Sie treffen dabei keine Entscheidung, sondern moderieren den Diskurs. Zu guter Letzt wird die Entscheidung anhand des Patientenwillens und der medizinischen Indikation getroffen. Der Wille des Patienten kann dabei aktuell geäußert, schriftlich vorausverfügt (Patientenverfügung) oder mutmaßlich ermittelt sein. „Auch die Angehörigen müssen oft erst verstehen, dass es nicht um ihren Willen geht, sondern nach dem Willen des Betroffenen. In den meisten Fällen ist dies für sie dann auch eine Erleichterung“, erläutert Dr. med. Christiane Hagenah, Anästhesistin im KRH Klinikum Siloah und Mitglied des Ethikkomitees.

Nicht nur für die Angehörigen ist das klinische Ethikkomitee eine Unterstützung, sondern auch für das Behandlungsteam. „Gerade die jüngeren Kollegen erleben eine gewisse Situation vielleicht zum ersten Mal in ihrer jeweiligen Rolle und sind sich unsicher über die ethischen und auch rechtlichen Rahmenbedingungen. Hier helfen wir mit unserer Erfahrung aus und beraten sie“, so Hagenah.

Die klinischen Fallbesprechungen machen einen wesentlichen Teil der Arbeit des KEK aus. Darüber hinaus ist das Ethikkomitee an der Fort- und Weiterbildung des Klinikums Region Hannover beteiligt – vom theoretischen Unterricht der PJ-Studenten (Praktisches Jahr der Mediziner) über Fachweiterbildungen in der Pflege bis hin zu internen Fortbildungen. „Ethische Fragestellungen begegnen uns überall im Krankenhaus – daher ist es wichtig, diese Kompetenz im Klinikum Region Hannover auf breiter Basis zu verankern. Durch die stetige natürliche Fluktuation ist dies auch eine fortlaufende Aufgabe“, unterstreicht Andrea Strube-Kirsch, Gesundheits- und Krankenpflegerin auf der Palliativstation im KRH Klinikum Siloah.

Ein weiterer Bestandteil der Arbeit des klinischen Ethikkomitees ist die Entwicklung von Handlungsempfehlungen sowie die Beratung zu Themen wie Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten. Hierfür ist das KEK auf öffentlichen Veranstaltungen wie beispielsweise dem Entdeckertag der Region Hannover vertreten und stellt Informationsmaterialien auf seinen Internetseiten zur Verfügung (www.krh.eu/ethik).

* Harald Clausen ist eine fiktive Person – die Darstellung der Ereignisse ist dennoch realistisch.